Polyamorie erforschen – Teil 2 des Interviews mit dem Polyamorieforscher Stefan Ossmann

Ich habe den Wiener Polyamorieforscher Stefan Ossmann an der Universität besucht, um mit ihm über seine Forschung zu sprechen. Den ersten Teil des Interviews, in dem er mir erklärt hat, was Polyamorie eigentlich ist und warum polyamor leben ungefähr so schwierig ist, wie sich vegan zu ernähren, kannst Du hier nachlesen. Im zweiten Teil des Gesprächs haben wir dann konkret über seine Forschungen gesprochen und Stefan hat mir erzählt, was polyamor lebende Menschen machen, wenn sie den tödlichen Männerschnupfen haben, welche Frage seine Interviewpartner*innen nicht beantworten wollten und warum er sich eigentlich gar nicht für Sex interessiert.

Kathrin: Welche Frage möchtest Du in Bezug auf Polyamorie beantworten?

Stefan Ossmann: Ich schaue mir an, inwiefern sich die Eigenwahrnehmung polyamor lebender Menschen mit der medialen Fremddarstellung deckt. Ist das, was in der Zeitung steht, das, was Personen, die poly leben, auch so wahrnehmen? Wenn es ein Thema ist, zu dem wir noch keine Meinung haben, und zu dem wir auch keine Personen im Bekannten oder Freundeskreis haben, die wir direkt danach fragen können, kommt den Medien eine besonders große Bedeutung zu. Eine meiner Detailfragen ist: Welche Medien haben Menschen konsumiert, als sie sich das erste mal mit Polyamorie auseinandergesetzt haben. Holen sie sich die Informationen aus dem Internet von Wikipedia, aus Blogbeiträgen, aus der Ratgeberliteratur, aus wissenschaftlicher Literatur oder aus Zeitungsartikeln? Schauen sie sich an, was der Standard, die Presse, die FAZ oder linke Zeitungen wie zum Beispiel die TAZ darüber schreiben. Mich interessiert das Phänomen also aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive. Es gibt schon nicht besonders viel Forschung zu Polyamorie generell, aber zu Polyamorie und Medien gibt es international praktisch nichts.

K: Was weiß man denn bisher über Polyamorie aus der Forschung?

S: Dass es etwas ist, was überwiegend von Menschen mit einem hohen Bildungsgrad gelebt und praktiziert wird, von Menschen mit dementsprechenden finanziellen Mitteln und – wenn man sich amerikanische Studien anschaut – überwiegend von Weißen. Der hohe Bildungsgrad ist damit erklärbar, dass polyamor lebende Menschen an einem der Pfeiler der Gesellschaft rütteln. Man muss schon relativ reflektiert sein und sich mit Beziehungsformen auseinandersetzen, um das durchziehen zu können und entsprechend leben zu können. Man musst sich ja auch in seinem Bekanntenkreis rechtfertigen. Ähnlich sieht es beim Einkommen aus: ein Großteil der überwiegend funktionierenden Polybeziehungen finden nicht im gemeinsamen Haushalt statt. Die Menschen wohnen getrennt. Um sich Einzelwohnungen leisten zu können, muss man aber die entsprechenden finanziellen Mittel haben. Es gibt auch Menschen, die zusammen leben und mehrere Beziehungen haben, aber da bleibt es immer asymmetrisch, weil die dazukommende Person nie den Status erreichen kann, wie der Partner oder die Partnerin, die im selben Haushalt lebt. Das kann ein Fluch sein, aber auch ein Segen. Die auswärts lebende Person ist eben auch nicht mit den dreckigen Socken konfrontiert oder der Nicht-Trennung von Bunt- und Weißwäsche und wenn der Mann einen Männerschnupfen hat, was ja eine Nahtoderfahrung sein kann für Männer, muss sich auch die Person drum kümmern bei der er daheim sterbend auf der Couch liegt. Er wird nämlich nicht zur Zweitfrau fahren, auf ihre Couch liegen und dort sterben.

K: Heißt das, dass Symmetrie für viele polyamor lebenden Menschen tatsächlich ein Ideal ist?

S: Da sind wir bei der zweiten Sache, die wir wissen. Da die Sozialwissenschaft gerne kategorisiert, sprechen wir von Primär- Sekundär und Tertiärbeziehungen. Die Idee der Primärbeziehungen ist, mit zwei – mehr geht schon pragmatisch nicht – Personen eine gleichberechtigte Beziehung zu führen. Sekundärbeziehungen haben eine geringere Bedeutung und Intensität und Tertiärbeziehungen eine noch geringere. Das ergibt sich teilweise aus pragmatischen Gründen, wenn ein Paar Kinder hat oder wenn Personen nicht in derselben Stadt wohnen. Die Intensität der Beziehungen kann aber auch emotionale Gründe haben. Wenn zum Beispiel eine neue Person dazu kommt, die sehr spannend ist, auch sexuell, aber gleichzeitig nicht berechenbar und eher sprunghaft, dann würde mich diese Person nach drei Jahren irrsinnig nerven. Ich habe dann keinen Primärbeziehung mit ihr, fahre vielleicht mal eine Woche nach Barcelona mit ihr aber sicher nicht drei Wochen mit dem Zug durch den Balkan.

K: Wie erforschst Du denn nun Polyamorie?

S: Ich mache zwei Dinge: die Fremddarstellung analysiere ich anhand von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und die Eigenwahrnehmung erhebe ich über biographische Interviews innerhalb der Polycommunity – überwiegend in Wien.

K: Wie kommst Du an Deine Interviewpartner*innen?

S: Ich habe in meinem Freundes- und Bekanntenkreis einige Menschen, die poly leben. Deswegen kannte ich die Szene schon. Konkret gibt es in Wien zwei Orte bzw. Organisationen, wo sich polyamore Menschen treffen. Das eine ist eine Art Vereinslokal, wo einmal im Monat Treffen stattfinden und das zweite ist eine Mailingliste, die auch monatliche Treffen veranstaltet, ganz bewusst in unterschiedlichen Lokalen.

K: Du sprichst also mit Personen, die Du entweder kanntest oder die Polyamorie so offen leben, dass sie auf dieser Liste aktiv sind oder zu dementsprechenden Treffen gehen?

S: Genau, das ist ein gewisser Bias. Ich versuche das aber dadurch auszugleichen, dass ich möglichst viele Menschen interviewe, die zu einem Polykül gehören. Ein Polykül ist ein Beziehungscluster: wenn man so etwas aufzeichnet, sieht es aus wie z.B. eine Sauerstoffverbindung, also wie ein Molekül. Daher der Name. Die Kugeln sind die beteiligten Personen und die Dicke der Verbindungen symbolisiert die Intensität der Verbindungen zwischen diesen Personen. Und dadurch, dass ich alle Personen eines Polyküls interviewe, hoffe ich die Stimmen der Menschen am Rand, die eventuell nicht zu solchen Treffen gehen würden, auch einzufangen.

K: Ich könnte mir noch einen anderen Bias vorstellen: Polyamorie hat, wie vorhin schon angesprochen, auch mit Sexualität zu tun. Hatten die Personen, mit denen Du gesprochen hast, Vorbehalte, über ihre Sexualität, ihr sexuelles Handeln zu sprechen?

S: Dazu eine interessante Beobachtung: im Anschluss an das Interview habe ich noch einen demographischen Fragebogen. Und da haben die Interviepartner*innen plötzlich Hemmungen, die Höhe ihres Gehalts anzugeben, viel mehr als wenn es beispielsweise um ihre sexuelle Orientierung oder ihre Sexualität geht.

Wobei ich sagen muss, dass mich sexuelle Praktiken nicht interessieren. Es kommt zwar immer wieder vor, dass Personen mir von unterschiedlichen Neigungen und Vorlieben erzählen, zum Beispiel wenn es darum geht, wie sie den Partner kennen gelernt haben. So scheinen überdurchschnittlich viele polyamor lebende Menschen eine SM-Neigung zu haben , was aber auch an dem Lokal liegen kann, wo ich sie getroffen habe, welches für kink bekannt ist. Aber wie dann genau gefesselt wird, ob mit Feuer oder Wachs gespielt oder japanisch gefesselt und aufgehängt wird, interessiert mich dann nicht mehr. Die Leute erzählen mir da manchmal mehr als sie müssten und ich kann mit der Information auch nicht viel anfangen, weil ich mit Sexualität theoretisch nicht viel am Hut habe. Ne, ich bin Kommunikationswissenschaftler.

Viele der Menschen, die ich interviewe kenne ich auch persönlich. Und ich begegne diesen Personen in meinem Umfeld immer wieder. Und ich weiß nach so einem Interview eh schon recht viel über die Personen, was es auch immer wieder schwierig macht, Anschlusskommunikation zu betreiben, weil ich die Dinge, die ich erfahre, nicht in Alltagsgespräche einbringe wenn andere dabei sind. Und da ist es vielleicht auch ganz gut, sexuellen Praktiken nicht im Detail zu kennen.

K: Darfst Du oder möchtest Du mir schon etwas über erste Ergebnisse Deiner Arbeit sagen?

S: Eindeutige Ergebnisse habe ich bei der kirchlichen Anerkennung. Die meisten Personen , die ich interviewt habe, sind ohne Bekenntnis. Und ein paar sind protestantisch. Die, die katholisch waren sind aus der Kirche ausgetreten. Entsprechend war die kirchliche Anerkennung zum Beispiel durch eine Segnung von Mehrfachbeziehungen praktisch kein Thema.

Ein weiterer spannender Punkt war die Geschichte mit den Testimonials, mit positiv konnotierte Vorbildern. In der Schwulenszene in Österreich gab es zum Beispiel Günter Tolar, der moderierte zur besten Sendezeit die Fensehshow ‘Made in Austria’ und hat sich glaub 2002 als schwul geoutet. 2007 folgte ihm Alfons Haider, der Schwiegersohn der Nation. Dann hatten wir vor mittlerweile drei Jahren Conchita Wurst. Ein schwuler Mann mit Bart in Frauenkleidern, der/die singt. Ging gar nicht. Ist auch ordentlich in den Medien zerrissen worden. Und dann fährt er/sie zum Song Contest und gewinnt das Ding. Wo war denn Österreich bislang richtig großartig? Beim Schifahren und beim Schispringen und dann hört es schon auf. Und plötzlich hatte auch meine Verwandtschaft im katholischen Dorf in Oberösterreich eine neue Heldin, die nicht aufgrund ihrer sportlichen Leistung berühmt geworden ist. Da war richtig zu merken, wie sich am Stammtisch die Stimmung geändert hat. Es war zwar immer noch nicht klar, ob es ein Mann oder eine Frau ist, aber das war wurscht, schließlich hatte sie was für Österreich gewonnen. So etwas hat die Polycommunity nicht. Es gibt Virginia Wolf, Jean-Paul Sarte, Simone de Beauvoir, Gustav Klimt, René Magritte. Das ist großartig, die sind alle positiv konnotiert aber leider auch alle tot. Bei den lebende Testimonials gibt es Dieter Wedel, Deutscher Filmemacher, im Rahmen der ‘#metoo-Debatte gerade medial angeklagt wegen sexueller Übergriffe und häuslicher Gewalt, sechs Frauen und mit diesen sechs Frauen sechs Kinder. Oder Rainer Langhans, Mitbegründer der Kommune 1, angeklagt wegen Brandstiftung in den 70er Jahren, neulich im Dschungel-Camp und dort recht früh rausgeflogen. Und schließlich eine Frau: die Uschi Obermaier: erstes Rock’n Roll Groupie Deutschlands, Sex-Idol, Alkohol- und Drogenexzesse, Affäre mit Mick Jagger. Die leben alle noch, aber die sind halt alle nicht positiv konnotiert.

Meine Hypothese wäre, wenn sich die Helene Fischer jetzt hinstellen und sagen würde „Ja, ich habe seit sechs Jahren eine Beziehung mit dem Florian Silbereisen, das wissen alle, aber heimlich und verborgen bin ich seit vier Jahren auch mit dem Andreas Gabalier zusammen und jetzt wagen wir den Schritt in die Öffentlichkeit“, ja (lacht) dann wär ma da!

K: Gibt es etwas aus Deiner Forschung, was Dich überrascht hat?

O: Nicht direkt aus der Forschung, aber aus der Recherche. Es hat mich überrascht, dass Polyamorie nicht nur unsere Altersgruppe betrifft, sondern dass auch 60+ Personen polyamor leben. Und dass Polyamorie in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen gelebt wird. Schon Zweierbeziehungen können so unterschiedlich sein – da gibt es unterschiedliche Kochrituale, Freizeit- und Sportaktivitäten, Familiensituationen. Poly ist nochmal vielfältiger, weil mit jeder Person im Beziehungsgeflecht nochmals eine neue Facette dazukommt. Es ist tatsächlich so groß und anstrengend, wie man es erwartet würde. Nein, es ist viel größer und viel anstrengender und mühsamer aber auch lohnender. Polyamorie ist nicht wie ein Hobby, das man eben ab und zu ausübt. Wenn man es ernsthaft betreibst, ist es immer da. Es ist, wie wenn man Kinder hat. Die sind auch immer, immer, immer da.

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