Gibt es Pornosucht? – eine erste Annäherung

Googelt man Pornosucht oder Sexsucht, findet man jede Menge Artikel, in denen Therapeutinnen oder Therapeuten (oder ehemalige Betroffene) vor schlimmen Folgen und/oder dem Suchtpotential von Onlinepornographie warnen. Ein Beispiel unter vielen ist dieser Artikel in der Stuttgarter Zeitung.

Da beschreibt ein Psychotherapeut Pornographiekonsum als ungesunde, verarmte Form der Sexualität. Wer mehrmals wöchentlich Pornografie konsumiere, müsse sich Gedanken machen (süchtig zu sein?) und vielleicht sogar mit Impotenz als Folge rechnen. Doch stimmt das überhaupt? Ist Pornographiekonsum ein Problem? Und machen Pornos süchtig?

Zunächst einmal sollte man ein paar Konzepte unterscheiden, obwohl sie in der Praxis und in den Medien gerne mal vermischt werden: Pornosucht, Sexsucht und Hypersexualität. Hypersexualität heißt einfach, dass Menschen besonders viel oder auch krankhaft viel Sex haben (Sex mit anderen Menschen oder Sex mit sich, mit oder ohne Pornos). Hypersexualität kann manchmal ein Symptom hirnorganischer Krankheiten wie z.B. bestimmter Formen der Demenz sein, aber auch ein eigenständiges „Erscheinung“. Der Begriff Sexsucht legt dagegen nahe, dass dieses besonders intensive Sexualverhalten Suchtcharakter hat, dass Menschen also zum Beispiel Entzugserscheinungen bekommen, wenn sie keinen Sex haben können, dass sie andere Lebensbereiche vernachlässigen oder dass sie eine Dosissteigerung brauchen (immer extremere Darstellungen und Praktiken oder immer häufigere sexuelle Kontakte). Pornosucht wäre dann entsprechend eine Sonderform der Sexsucht.

Interessant fand ich, dass sich keiner dieser Begriffe (hypersexuality, sex addiction und porn addiction) in einem der beiden großen Diagnosekataloge DSM V (1) und ICD 10 (2) findet. Im ICD 10 gibt es immerhin noch „gesteigertes sexuelles Verlangen“ als Diagnosekategorie, im DSM gibt es so etwas gar nicht. Mein Lieblings- Sexlehrbuch- Autor Justin Lehmiller führt das darauf zurück „dass es einen Mangel an Forschung zu diesem Thema gibt und eine Mangel an Übereinstimmung, was eigentlich „zu viel“ ist, wenn es um sexuelles Verhalten geht.“(3). Sexsucht und Pornosucht haben es, trotz einiger Diskussion und obwohl zum Beispiel Spielsucht im DSM durchaus als Störung aufgeführt ist, weder ins DSM noch ins ICD geschafft. Die Expertinnen und Experten, die an der Erstellung und Überarbeitung dieser Kataloge beteiligt waren, waren also offenbar der Auffassung dass es Pornosucht/Sexsucht als Krankheit entweder nicht gibt, oder man nicht mit ausreichender Sicherheit sagen kann, dass es sie gibt oder dass „übermäßiger“ Pornokonsum zwar eventuell krankhaft ist aber eben gar keine Sucht. Fest steht jedenfalls, dass zum aktuellen Zeitpunkt weder Sexsucht noch Pornosucht anerkannte psychische Störungen sind.

Das hält jetzt Therapeutinnen und Therapeuten nicht davon ab, vor den Gefahren der Pornografie zu warnen und (vermeintlich?) Pornosüchtige zu behandeln. Und die behandeln ja niemanden gegen seinen Willen. Entsprechend gibt es sicher eine ganze Reihe von Menschen, die Probleme mit dem eigenen Pornokonsum haben. Nur: nur weil jemand eine Problem mit einer Sache hat, heißt das nicht, dass die Sache selbst das Problem ist. Ein vielleicht etwas gewagter Vergleich (vielleicht aber auch nicht): in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hatten jede Menge Menschen Probleme mit der eigenen Homosexualität. Das lag aber, so wie wir es heute sehen, nicht daran, dass die Homosexualität selbst das Problem oder gar krankhaft gewesen wäre, sondern daran, dass sie gesellschaftlich nicht akzeptiert war und betroffene Personen mit Diskriminierung zu kämpfen hatten. Vielleicht ist Pornographie ja gar nicht das Problem, sondern unser Umgang damit. Es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen „Lager“) die genau diese These vertreten. Einer von ihnen ist Florian Voros, der in seinem Paper „The invention of addiction to pornographie“ (die Erfindung der Sucht nach Pornographie) schreibt: „Der Kampf gegen die Pornosucht kann so als eine Art moralischer Kreuzzug angesehen werden, durch den eine bestimmte Gruppe von Menschen (nicht -oder ex- oder moderate Nutzer/innen, die Teil eines heterosexuellen Paares sind) versucht, ihren Lebensstil anderen aufzunötigen.“ (Übersetzung von mir) (4)

Ein erster Blick in die wissenschaftliche Literatur zeigt jetzt aber: Es sind nicht nur Praktikerinnen und Praktiker sowie ehemalige Betroffene, die von der süchtigmachenden Wirkung der Pornographie überzeugt sind, auch in einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Artikeln finden sich Begriffe wie porn addiction und sex addiction. Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind da vorsichtiger und verwenden stattdessen Wortungetüme wie „selbstdiagnostizierter problematischer Pornokonsum“ (5), meinen aber im Grunde dasselbe. Und dann gibt es, wie wir oben schon gesehen haben, die, die es nicht für problematisch halten, wenn Menschen sich häufig selbst befriedigen und dabei Pornos schauen.

Es scheint also zur Zeit eine sehr spannende Kontroverse im Gang zu sein, bzw. eigentlich sind es zwei Fragen oder Kontroversen. Die erste lautete: Ist problematischer Pornokonsum einen Sucht? Sprich: Machen Pornos süchtig? Oder könnte es sich nicht auch zum Beispiel um impulsives oder zwanghaftes Verhalten handeln ? Die zweite könnte man so formulieren: Ist Pornokonsum überhaupt problematisch? Wobei sich diese wieder aufteilen lässt in: Hat Pornokonsum negative Folgen (z.B. für die sexuelle Gesundheit und/oder die Partnerschaft)? Und: Ist exzessiver Pornokonsum selbst als Krankheit bzw. als psychische Störung anzusehen?

An beiden Fragen werde ich dranbleiben und in den folgenden Wochen hier etwas dazu schreiben. Zuvor möchte ich ich Euch aber ein Ergebnis nicht vorenthalten, das ich in einem Artikel über Behandlungsmethoden (6) entdeckt habe: Da wird von einer Studie (7) zur Gruppentherapie bei „Pornosucht“ berichtet, in der sich herausgestellt hat, dass es den behandelten Personen nach der Therapie deutlich besser ging. Sie waren weniger depressiv und fühlten sich insgesamt wohler – ihren Pornokonsum hatten sie allerdings nicht verringert.

Literatur: (1) Das DSM V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist ein Diagnosesystem für psychische Erkrankungen, das von der  Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft herausgegeben wird und auch für die internationale Forschung eine wichtige Bedeutung hat. (2) Das ICD 19 (International Statistical Classification of Deseases and Related Health Problems) ist das aktuell gültige internationale Diagnosesystem für Krankheuten und Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und wird in leicht angepasster Form z.B. in Deutschland verwendet, wenn Leistungen mit der Krankenkasse abgerechnet werden (3) Lehmiller, J. (2018). The Psychology of Human Sexuality. Second Edition. New York: Wiley. S.134 (4) Voros, F. (2009). The invention of addiction to pornography. Sexologies, 18, S.245. (5) siehe zum Beispiel: Sniewski, L., Farvid, P. & Carter, P. (2018). The assessment and treatment of adult heterosexual men with self-perceived problematic pornography use: A review. Addictive Behaviors, 77, 217-224. (6) ebenda (7) Orzack, M., Voluse, A., Wolf, D. & Hennen, J. (2006). An ongoing study of group treatment for men involved in problematic internet-enabled sexual behavior. Cyberpsychology & Behavior, 9(3), 348-360.

Was denkt Ihr? Gibt es Pornosucht? Würdet Ihr Euch vielleicht sogar selbst als süchtig beschreiben? Oder ist das eine Erfindung von konservativen Therapeutinnen und Therapeuten, die Pornographie eigentlich aus ganz anderen Gründen problematisch finden?

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