Was ist eigentlich Polyamorie?- Teil 1 eines Interviews mit mit dem Polyamorie-Forscher Stefan Ossmann

Stefan Ossmann forscht an der Universität Wien über Polyamorie, und ich habe ihn in seinem Büro getroffen, um mit ihm über seine Forschung zu sprechen. Da das dann doch ein längeres, aber gleichzeitig sehr dichtes und interessantes Gespräch war, habe ich mich entschieden, das Interview in zwei Teile zu teilen. In diesem ersten Teil erfahrt Ihr, was Polyamorie überhaupt ist, warum manche Polys nicht mehr auf Hochzeiten eingeladen werden und was Polyamorie mit Veganismus und Rennrädern zu tun hat.

 

Kathrin: Vielen Dank, dass Du Dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Was ist eigentlich Polyamorie genau?

Stefan Ossmann: Da beginnt es schon mit den Schwierigkeiten: eine einheitliche Definition gibt es nicht. Der Kern der verschiedenen Definitionen ist aber, dass es sich um emotionale und sexuelle Mehrfachbeziehungen mit dem Wissen aller Beteiligten handelt – im Regelfall über längere Zeiträume.

K: Das heißt, die Personen, die poly…Kann man sagen, dass die Personen polyamor sind? Oder in polyamoren Beziehungen leben?

S.O.: Da sind wir bei der nächsten Schwierigkeit. Es ist noch nicht geklärt und scheint sich auch nicht eindeutig klären lassen, wie man Polyamorie versteht: ob es eine Form von intimer Praxis, sexueller Orientierung oder Identität ist.

K: Kannst Du Beispiele für diese drei nennen?

S.O.: Nach der Definition von eben wäre der Schwerpunkt des polyamoren Handelns die sexuelle Ebene. Polyamorie würde sich dann dadurch definiere, dass Menschen Sex mit unterschiedlichen Personen haben, und das langfristig, transparent und offen. Das kann auch mit Emotionalität verbunden sein, aber der Schwerpunkt ist die Sexualität. Das zweite wäre poly als sexuelle Orientierung. Dann wäre es ein „poly sein“, so wie du schwul bist oder lesbisch bist. In dem Verständnis wärst Du mehr oder minder poly auf die Welt gekommen und entscheidest Dich dann, ob Du es auslebst oder nicht, so ähnlich wie sich schwule Menschen in Österreich eher dafür entscheiden werden, offen schwul zu leben als in Saudi-Arabien, wo sie mit Steinigung bedroht sind. Da gibt es wahrscheinlich viele, die das Bedürfnis haben, ihre Polyamorie-Neigung auszuleben, aber nur wenige, die das dann auch konsequent durchzuziehen. Und die dritte Herangehensweise ist die Identität. Das wäre in etwas wie bei der Transsexualität: so wie du als Transperson öffentlich als Frau oder Mann auftrittst und das deine Identität ist, kann auch `polyamor sein` eine Identität darstellen.

K: Zur Veranlagung: Woran würde man den merken, dass ein Mensch poly ist? Oder woran würde es ein Mensch selbst merken? Bin ich poly, wenn ich mit mehreren Menschen Sex haben möchte oder mehrere Menschen gleichzeitig lieben kann? Oder bin ich poly, wenn ich es aushalten kann, dass mein Partner mehrere Menschen gleichzeitig hat?

S.O.: Das ist einer der spannenden Aspekte, deswegen stelle ich in meinen Interviews eine Frage zu Lebens- und Liebenshistorie. Ich will wissen, wann Menschen das erste mal das Gefühl gehabt haben, dass sie poly sind. Und da gehen die Geschichten auseinander: das kann im Kindergarten beginnen, bei der ersten Kindergartenliebe, das kann beim ersten Kuss passieren oder in der ersten Beziehung mit 12, es kann aber auch mit 35 passieren, nach dem Ende einer achtjährigen Beziehung, wenn man das Gefühl hat, dass da mehr sein muss. Und dann kommt man zu so Erkenntnissen wie „ich hab mich als Kind schon so gefühlt“ oder „es war immer schon unnatürlich nur mit einer Person zusammen zu sein zu sein, aber ich habs halt gemacht, weil das die gesellschaftliche Konvention war.“

Wie und ob Polyamorie gelebt wird kann sich aber auch im Lauf des Lebens ändern, zum Beispiel wenn die Familiengründung im Raum steht. Ich habe mit Menschen gesprochen, die offen poly gelebt haben und sich dann entschieden haben, während der Schwangerschaft und der Stillperiode ihre Beziehung zu schließen, damit es symmetrisch bleibt. Für einen Mann ja es ja weiterhin möglich, rauszugehen und bei der Freundin zu übernachten, wohingegen die Frau einen Bauch bekommt, am liebsten die ganze Zeit nur speiben will und später dann in der Stillzeit beim Kind unabkömmlicher ist. Wenn das Kind dann groß genug ist, um wieder beim Papa bleiben zu können, kann die Beziehung dann auch wieder geöffnet werden.

K: Mit mehreren Personen zusammen sein wollen, wäre also die Definition von polyamorer Neigung?

S.O.: Ja. Das Bedürfnis nach Sexualität mit anderen Personen dürften so ziemlich alle Personen haben. Aber das ist noch nicht poly, das ist eine offene Beziehung, das ist wesentlich einfacher. Bei poly musst/kannst /darfst Du Dich hingegen auf mehrere Menschen wirklich einlassen. Das ist sehr spannend. Aber wirklich spannend wird es dann, wenn Du es dem anderen dann auch zugestehen musst, damit es symmetrisch bleibt. Und deswegen ist es auch recht schwer, eine bestehende Monobeziehung zu öffnen. Es funktioniert nämlich nur dann gut, wenn sich beide Menschen Freiheiten zugestehen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass in einer monogamen Beziehung eine Person mit polyamorer Neigung drauf kommt, dass die zweite Person auch poly ist, ist sehr gering – wenn man jetzt davon ausgeht, dass ungefähr 5% diese Neigung haben.

K: Was glaubst Du denn, ist es eine Neigung?

S.O.: Inzwischen ist es eher: was weiß ich? Es ist nicht eindeutig entscheidbar. Was in Konsequenz bedeutet, dass die rechtliche Anerkennung auch in weite Ferne rückt. Es ist alles und gleichzeitig vor allem eines: Es ist eine multiple Liebesbeziehung. Der emotionale Teil ist bis jetzt in der Forschung übersehen worden: Nicht die Sexualität steht bei der Polyamorie im Mittelpunkt sondern die Emotionen, die die Menschen füreinander haben. Es geht um Menschen, die sich lieb haben.

K: Was sind die wichtigsten Dinge, die Menschen Deiner Meinung nach über Polyamorie wissen sollten

S.O.: Es funktioniert nicht für alle. Es lohnt sich wahrscheinlich, das auszuprobieren, aber man muss sich auch eingestehen, wenn es nicht funktioniert. Es ist auch nichts für Menschen, die keine gefestigten Beziehungen haben. Wenn eine Beziehung von Haus aus schon nicht funktioniert und man sich dann einen Dritten dazu holt, dann ist das zum Scheitern verurteilt. Ja und man muss auch nicht. So wie man sie nicht vegetarisch ernähren muss. Vegetarisch ernähren wäre in diesem Bild eine offene Beziehung führen, das ist kompliziert, aber das geht noch. Aber eine Polybeziehung das ist dann Veganismus. Das verlangt schon relativ viel Commitment.

Mit allen Konsequenzen, die dran hängen. Da musst Du damit rechnen, dass Du nicht oder nurmehr teilweise auf Taufen oder Hochzeiten eingeladen wirst. Dort geben sich zwei Menschen das Ja-Wort und wenn Du dort zu dritt auftauchst zerstörst Du die Idee davon. Das kann schon zur sozialen Ausgrenzung führen, wenn Du es ernsthaft betreibst.

K: Kann man denn überhaupt sinnvoll eine Empfehlung geben, es zu probieren wenn es sowieso nur bei den wenigsten Menschen der eigenen Neigung entsprechen dürfte?

O: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die es ganz ernst meinen, und auf der anderen Seite haben wir halt die Bobos, wo Polyamorie zum Lebensstil gehört wie das alte Peugeot-Rennrad aus den 80ern. Möglicherweise kippen sie rein und es ist wirklich da und wird zum Lebensinhalt. Oder es war halt eine Zeit lang schön, sie haben es probiert und lassen es dann wieder bleiben. Ich kann de facto tatsächlich keine Empfehlung abgeben. Wenn ihr so empfindet, probiert es aus und schaut, wo es Euch hinführt!

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